Geschichten von Ingrid Marschang für Kinder und Erwachsene
Berlin 2025
Leseprobe:
Es war ein mal ein Dreieck
Es war einmal ein Dreieck, das hieß Marie. Marie war noch keine sieben Jahre alt und hatte bereits einen rechten Winkel und drei Ecken: Aps, Blobs und Cling. Dreiecke blieben lange Kinder, mindestens bis zum 100.ten Lebensjahr, dann mussten sie sich entscheiden, was sie werden wollten. Die meisten blieben Dreiecke. Aber manche schlossen sich mit Quadraten und Rechtecken zusammen und wurden zu Pyramiden oder zu Prismen.
Marie machte sich noch keine Gedanken um ihre Zukunft. Sie liebte es, mit den anderen Dreiecken draußen herum zu tollen. Manche ihrer Freunde hatten so lange Schenkel, dass sie zwei Kilometer von einem Aps zum nächsten Blobs laufen musste. Das war erstaunlich. Auch heute war wieder einer dieser wunderbaren Tage, die Welt zu entdecken. Marie schminkte gerade ihren rechten Winkel, als ihr Mutterprisma die Tür öffnete und verkündete: „Um 15:00 Uhr hast du wieder deine Sitzung bei Dr. Dreifreud.“ – „Ich will nicht zu Dr. Dreifreud, der hat ein Quadrat im Gesicht“ murrte Marie. „Es ist ein Quadratbart!“ verbesserte die Mutter geduldig und: „Jeder ist eben anders. Wir müssen tolerant sein!“ – Ich bin nicht tolerant, sondern rechtwinklig!“ schrie Marie trotzig. Die Mutter schaute ihrer Tochter betrübt in den Cling: „Ich bin ein Prisma, auch in mir sind drei Rechtecke!“ Aufgeregt schlug Marie Kapriolen. „Aps, Blops, Cling“, hüpfte sie durchs Zimmer. „Ich will nichts von deinen Rechtecken wissen!“ Die Mutter nahm besorgt den Aps der Tochter und führte sie zu Dr. Dreifreud.
Dr. Dreifreud war mindestens 200 Jahre alt und schien alles zu wissen. Manche behaupteten, er könnte einem Dreieck in die geheimsten Winkel seiner Seele sehen. Nervös rutschte Marie im großen hellblauen Sessel hin und her, während Dr. Dreifreud sich seine Pfeife anzündete: „Was hast du heute Nacht geträumt, Marie?“ Dr. Dreifreuds Gesicht war nun in eine weiße Rauchwolke gehüllt. „Ich hatte einen Alptraum. Ein hellblaues Quadrat entführte mich zu den Pyramiden und zwang mich, seine Frau zu werden.“ – „So so“, brummelte Dr. Dreifreud. „Die Quadrate sind doch aber sehr freundliche Wesen . . . und wunderbare Liebhaber.“ – „Ich will aber keine Pyramide werden! Dann muss ich mich ja mit einem Quadrat zusammen schließen!“ schrie Marie entsetzt. „Vierecke und Quadrate haben vier Ecken, das ist widernatürlich.“
„Wenn du sie erst kennen lernst, wirst du sehen, dass sie uns gar nicht unähnlich sind“ sprach es aus der Wolke. „Nicht unähnlich!“ brauste Marie auf. „Ich habe rein gar nichts mit einem Viereck zu tun!“ schrie sie zornig und hüpfte von einer Ecke auf die andere, dass es nur so blobste.
„Ich will dir ein Geheimnis verraten“, sagte Dr. Dreifreud: „Unsere Urahnen hatten alle vier Ecken und ab und zu gibt es sie immer noch, die geheimnisvolle wunderbare Geburt des Dreiecks aus einem Viereck!“ Dr. Dreifreud machte eine lange Pause und schaute Marie tief in den Cling: „Die wunderbare Geburt des rechtwinkligen Dreiecks durch Teilung eines Vierecks! Aber noch nie hat sie jemand gesehen und jeder, der das behauptet, wird für verrückt erklärt.“ Dr. Dreifreud schaute lächelnd aus dem Fenster, wo die Pyramiden in der Sonne herum lungerten und sich kichernd den neuesten Klatsch erzählten.
„Niemals!“ schrie Marie. „Niemals waren meine Vorfahren Vierecke oder Quadrate!“ Dann sprang sie auf und lief hinaus. Dr. Dreifreud pustete eine viereckige Wolke aus seiner Pfeife und lächelte geheimnisvoll.