Nietzsche Zyklus

Der Wille zur Wurst

Ausstellung im Nietzsche-Haus in Sils-Maria (Sommer- und Wintersaison 2001/2) P A R A D O X E  H E I T E R K E I T

Paradoxe Heiterkeit. Diese entsteht, wenn der erschütternde Ernst des Geistes Friedrich Nietzsches auf die Körperlichkeit der Wurst und der Verdauung stößt. Ingrid Marschang hat diesen Umstand bildlich festgehalten, mal impressionistisch, mal expressionistisch, immer heiter gewürzt mit der Leichtigkeit der Karikatur und des Comics. Die aufwendige Gouache-Technik, bei der Schicht über Schicht gelegt wurden, jeweils getrennt durch stumpf gewischten Klarlack, sorgt für einen verblüffenden Kontrast zwischen Form und Inhalt, die zum komischen Gesamteindruck beiträgt.

Der Wille zur Wurst I: Die Wanderwurst, Gouache auf Holz

In der heiteren Idylle einer Landschaft, die dem Betrachter entgegen leuchtet, sehen wir Nietzsche, bei einer Wanderung nahe seines Domizils in Sils-Maria. Waren die Alpen für Nietzsche vielleicht ein Ort, an dem er sich Gott näher fühlte? Die idyllische Atmosphäre des alpenländischen Panoramas lässt dies jedenfalls erahnen. Mitten in dieser Idylle trifft der Philosoph auf eine wandernde Wurst, die dem Betrachter zulächelt und ihn damit zum Komplizen macht. „Grüß Gott“ möchte man der Wurst zurufen, die lachend den Wanderstock schwingt.  Der Philosoph selbst starrt auf die Wurst, als wäre es eine göttliche Erscheinung. Der passionierte Wanderer schrieb in seinen Briefen mit scharfem Blick regelmäßig über die Qualitäten der Würste, die er als Proviant verzehrte. Nun erscheint ihm hier übergoss die Verkörperung seiner großen Liebe, beunruhigend und doch ein köstlicher Witz.

Der Wille zur Wurst II: Also aß Nietzsche, Gouache auf Leinwand

Beim Abendessen findet sich Nietzsche beim Verspeisen seines Mahls den empörten Blicken der anderen Gäste ausgesetzt, die ihm – nun selbst als Würste erscheinend – an seine Achtung vor der Kreatur, der Schöpfung erinnern. In die Ecke gedrängt, schreckt er mit seiner Geistesgröße, welche als expressionistische Schattengestalt hinter ihm erscheint, vorm weiteren Verzehr zurück. So muss denn auch der überarbeitete Kellner, selber schon verwurstet, betreten schweigen. „Du bist was du isst“.  Fürchtet der Philosoph, sich in den Kreislauf des Konsums, die Wiederkehr des ewig Gleichen, einzureihen und damit selber zur Wurst zu werden?

Der Wille zur Wurst III: Die Wurst ist tot, wir haben sie getötet! Gouache auf Leinwand

Tageslicht scheint durch das Fenster, dennoch ist es so finster, dass man auch tagsüber die Laternen anzünden muss. Nietzsche weiß schon: „Gott ist tot, wir haben ihn getötet“ noch ehe die Botschaft von der Masse verstanden worden ist. Wenn nichts mehr heilig ist, wird sogar der Gekreuzigte zur kummervollen Wurst. Der Ausdruck des Entsetzens ist dem Philosophen ins Gesicht geschrieben. Er trägt es dem Betrachter zu, möge auch er des Entsetzlichen gewahr werden. Doch wie lange wird es dauern, bis die Nachricht über den Verlust des Heiligen die Herzen der Menschen erreichen wird?

P A R A D O X E  H E I T E R K E I T

Ingrid Marschangs Bilder wurden zum ersten Mal 2001 bei einer Gemeinschaftsausstellung in der Schweiz gezeigt. Gegenwartskünstler setzten sich mit der skurrilen Leichtfüßigkeit von Nietzsches Humor auseinander. Weitere Ausstellungen folgten.

Über die Ausstellung:

Mitwirkende Künstler: Paul Flora, Marion Gülzow, Paul Gugelmann, Hans Küchler, Joachim Jung, Ingrid Marschang, Friedrich Nietzsche, Werner Nydegger, Martin Schwarz, René Staub/Harry Walter (ABR) sowie Alfons Wyss

Konzept und Texte: Prof. Dr. Peter André Bloch

In den vielen Ausstellungen und Kommentaren anlässlich seines hundertsten Todestages kam vor allem der ernste, pathetische, visionäre Nietzsche zur Darstellung, „der Philosoph der kommenden Jahrtausende“, wie er sich selbst genannt hat. Viele sehen in Nietzsche nur den Kritiker und tragischen Analytiker und übersehen seine zahlreichen humoristisch-ironischen Zwischentöne. Die Ausstellung in der Schweiz versucht, Nietzsches heitere, humorvolle Seite hervorzuheben, die aufgrund seines Schicksals für den Betrachter kaum je in Erscheinung tritt. Neben den vielen zeitgenössischen Darstellungen und Parodien soll auch versucht werden, auf Nietzsches Vorliebe für Verkehrungen und Paradoxien sowie auf seine selbstironisch-parodistische Darstellungskunst hinzuweisen.

Gemeinsam arbeiten Joachim Jung (seit 1991 Kustos im Nietzsche-Haus in Sils-Maria) und Ingrid Marschang an einem Buchprojekt zu Nietzsches Essverhalten. In der Ausstellung bekommt man in dieses Projekt einen Einblick durch eine „Textinszenierung“ mit dem Arbeitstitel:


Nietzsches Wurst oder Vom ewigen Verzehr des Gleichen

Querschnitt durch Nietzsches Wurstkorrespondenz,
bebildert von Ingrid Marschang.

Die Bühne ist eröffnet. Ingrid Marschang und Joachim Jung wollen Nietzsches Denk- und Ausdrucksformen nicht ins Intellektuelle, Wissenschaftlich-Philosophische verfremden, sondern im Theatralischen vergegenwärtigen. Der Denker offenbart – umrahmt von einem Theatervorhang in pathetischem Schwarz und operettenhaftem Rot – seine Obsession des Würste- und Schinken-Essens. Joachim Jung stellte 95 Briefzitate zusammen, in denen Nietzsche seine Wurstwünsche zu Papier gebracht hat. Nietzsche war stets darum besorgt, dass die Kette der Würste und Schinken, mit denen ihn die Mutter auf dem Postweg versorgte, nicht abriss. Mit großer Akribie und Detailfreude hat er dies zu Papier gebracht. Vom einfachen Ruf nach einer neuen Wurst bis zur minutiösen Beschreibung ihrer Bekömmlichkeit und der Nummerierung unterschiedlicher Wurstsorten, bekommt der Betrachter Einblicke in die „Verdauungsphilosophie“. Die parodistischen Wurstbilder, welche die Textinszenierung begleiten, veranschaulichen in drei kleinen, phantastischen und grotesken Szenerien den ausgeprägten „Willen zur Wurst“. Diese provokant übersteigerte Bildlichkeit ist durchaus in Nietzsches Sinne und entspricht dessen Sprachgebrauch selbst:

„Die ernsthafteste Parodie, die ich je hörte, ist diese: im Anfang war der Unsinn, und der Unsinn war bei Gott! Und Gott (göttlich) war der Unsinn.“ F.N.

Guten Appetit!